Russian RailroadsRussian Railroads

Die Gattung der Arbeitereinsetzspiele ist langlebig - mit einfachen Mitteln wird Spannung erzeugt und werden die Spieler gezwungen, taktisch flexibel zu agieren. Russian Railroads macht hier keine Ausnahme, bringt aber zusätzlich Qualitäten mit, die mittlerweile recht untypisch für abendfüllende Spiele sind. Wenden wir also den Blick nach Russland und schauen uns an, welche das sind.

SpielplanausschnitteIm Kern ist Russian Railroads völlig abstrakt, ohne jedoch, dass sein Thema aufgesetzt wirkt - es passt zum Geschehen auf dem Spielplan. Jeder Spieler kann auf seinem persönlichen Tableau drei unterschiedlich strukturierte Bahnlinien bauen bzw. mehrfach sanieren. Nüchtern betrachtet handelt es sich hierbei um Fortschrittsleisten, die bei Erfüllen bestimmter Kriterien Belohnungen bringen und bei den Wertungen zum Rundenende, je nach Ausbaustand, lukrative Punkte versprechen. Die Spieler konkurrieren auf dem zentralen Tableau um Aktionen in den Bereichen Streckenbau, Lokomotiv-/Fabrikbau und Ingenieure. Lokomotiven werden benötigt, um Strecken in die Wertung zu bringen bzw. bestimmte Belohnungen zu erhalten. Fabriken baut man, um zum einen seinen Industrieausbau zwecks Siegpunkten weit voranzubringen, zum anderen, weil sie bei Aktivierung einmalige Sonderaktionen parat halten. Hier wurde die geschickte Regel eingebaut, dass man sich stets nur die niedrigste Lok/Fabrik nehmen darf, was die taktisch sehr reizvolle Abwägung erfordert, ob ich selbst durch zahlreiche Käufe dafür sorge, dass ich an die höheren Loks/Fabriken herankomme oder ob ich das aussitze und darauf hoffe, dass meine Mitspieler dies übernehmen. Ingenieure schließlich sind in drei Bereiche unterteilt: Einer kann pro Runde angeheuert werden, ein bis zwei (je nach Spielerzahl) stehen als zusätzliches Aktionsfeld zur Verfügung, drei bis vier weitere warten darauf, in den späteren Runden ins Spiel zu rücken. Ein angeheuerter Ingenieur steht nur seinem Besitzer als zusätzliches Aktionsfeld zu Verfügung, er ist also eine sichere Bank, mit der sich planen lässt. Zudem winkt am Spielende noch einmal ein Batzen Siegpunkte für die Spieler mit den meisten bzw. zweitmeisten Ingenieuren.

Mehr ins Detail zu gehen ist unnötig, wichtiger ist es, das Spielgefühl zu beschreiben: Für ein modernes abendfüllendes Spiel recht untypisch ist, dass dies ein durchweg positives ist. Herrschen bei anderen Spielen häufig Mangel und Enge, so gilt hier: Es geht immer etwas und es gibt keine "schlechten" Aktionen, sondern nur zweitbeste oder allenfalls drittbeste. Erstaunlich hierbei ist die taktische Varianz, die RR mitbringt: Nahezu alle von mir getesteten Strategien haben wunderbar funktioniert und immer wieder hält das Spiel schöne Erfolgserlebnisse bereit, die in mitunter spektakulären Kettenzügen gipfeln können. Motor hierfür sind die freischaltbaren einmaligen Sonderaktionen auf den Strecken und der Fabrikleiste, sowie die Sonderaktionen der Fabriken selbst. Der konstruktive Charakter des Spiels schlägt sich auch darin nieder, dass es nicht möglich ist, einen Gegenspieler massiv zu schädigen - im Auge behalten sollte man seine Kontrahenten aber sehr wohl: Ist man erfolgstechnisch erst einmal an einem gewissen Punkt angelangt, holt man schnell einen uneinholbaren Vorsprung heraus. Hierin liegt ein kleiner Wehrmutstropfen - meine Partien hatten, bis auf eine Ausnahme in einer Zweierpartie (siehe Kasten), einen klaren Sieger (der niedrigste Vorsprung vom Ersten zum Zweiten waren in den anderen Partien 85 Punkte, wobei der Gewinner in der Regel bei ca. 435 Punkten lag), welchen ich ein bis zwei Runden vor Schluss bereits vorhersagen konnte, da sein spieltechnischer Vorsprung uneinholbar war. Gerne hätte ich mal eine bis zum Schluss spannende Partie mit knappem Ausgang erlebt, aber hierzu braucht es vermutlich eine absolut identisch erfahrene und ausgeglichen starke Spielrunde. Hier allerdings droht ein wenig Gleichförmigkeit, denn es gibt durchaus Aktionen, die vom Startspieler und den folgenden bevorzugt werden und "die man nimmt, wenn sie einem nicht weggenommen werden". Ein immenser Nachteil erwächst dem Spiel dadurch jedoch nicht, bringt dies doch die Möglichkeit mit, derjenige zu sein, der die Gleichförmigkeit durchbricht und sich dadurch einen spielrhythmischen Vorteil verschafft. Ich konnte dies schon einmal erfolgreich (und vergnügt) praktizieren.

Punktewege bei SpielendeNur das kleine "Runaway-Leader-Problem" trennt Russian Railroads von einer persönlichen Höchstwertung. Dass wir es mit einem Klassespiel zu tun haben, soll hier aber nochmal deutlich gemacht werden: Nein, es bietet nichts, was es nicht schon in anderen Spielen gab, aber die strategische Varianz sorgt für einen extrem langanhaltenden Spielreiz. Die klaren Siege hatten und haben natürlich bei mir am Spieltisch und in diversen Webforen zur Folge, dass schnell gewisse Strategien als "zu stark" oder gar "unschlagbar" tituliert werden - da war es gut, dass ich stets erwidern konnte, mit einer konträren Strategie schon ebenso erfolgreich gespielt zu haben. Die abgebildeten Fotos mit Ausschnitten der persönlichen Tableaus zeigen, jeweils nach dem Spielende, verschiedene Wege, die zu Siegen geführt haben - und sind doch nur eine kleine Auswahl.
Ein Wort noch zur Komplexität: Der Verlag schreibt auf seiner Webseite fast entschuldigend, dass RR ein reines Vielspielerspiel sei. Das klingt schlimmer als es ist, denn dank seiner klaren Struktur ist es komplex, aber nicht kompliziert. Ich habe in meinen Runden zwei, zwar erfahrene, aber dennoch ausgemachte, Familienspielerinnen erlebt, die prima mitgehalten und das Spiel bereits ab der dritten von sieben Runden völlig eigenständig gespielt haben. Dies ist nicht zuletzt der Tatsache zu verdanken, dass sich nahezu sämtliche Informationen auf dem Spielplan wiederfinden und man sich nicht etliche kleine Einzelheiten merken oder immer wieder nachschlagen muss. Außerdem ist aus Erklärersicht unbedingt die Anleitung zu erwähnen: 21 Seiten Regeln und ich habe mir bei der Lektüre nicht einmal fragend den Kopf gekratzt. Sie ist hervorragend strukturiert, klar verständlich, sinnvoll bebildert und dabei noch durchaus humorig geschrieben. Ein strahlendes Vorbild in Zeiten häufig unfertig oder undurchdacht wirkender Spielregeln. Ich lehne mich mal zu diesem frühen Zeitpunkt weit aus dem (Zug-)Fenster und behaupte, dass Russland wird durchqueren müssen, wer zu Kennerspiel oder Spielepreis aufgebrochen ist.(fd)

Russian Railroads zu Zweit
LokomotiveZu zweit gibt es ein verschlanktes zentrales Tableau, um den Konkurrenzkampf beizubehalten. Es ist eine Zweispielerversion, die sehr gut gelungen ist und nah an das Spielgefühl des Mehrpersonenspiels herankommt.
Steckbrief
Russian Railroads
Autoren Verlag Spieler Alter Spieldauer Gestaltung
Helmut Ohley, Leonhard Orgler Hans im Glück 2 - 4 Spieler ab 12 Jahre ca. 120 Minuten Martin Hoffmann, Claus Stephan